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Interview mit Prof. Dr. Stefan Ouma und Dr. Christine Vogt-William zum Thema Rassismus
06.07.2020
Bayreuth, 06.07.2020. Mehrere Wochen nach der Tötung des Schwarzen George Floyd durch einen Polizisten in USA gibt es immer noch Massen-Proteste in den USA. Diese Ereignisse haben einer Diskussion neues Feuer gegeben, die nun auf der ganzen Welt geführt wird. Ein Interview mit Dr. Christine Vogt-William, Leiterin des Büros für Gender und Diversität im Exzellenzcluster Afrika Multipel und Prof. Dr. Stefan Ouma, Professor für Wirtschaftsgeographie an der Universität Bayreuth und Mitglied des Exzellenzclusters.
Warum, denken Sie, hat gerade der Fall George Floyd das „Fass zum Überlaufen“ gebracht?
CVW: Meiner Meinung nach haben hier mehrere Faktoren zusammengespielt. Gesellschaftliche Benachteiligungen von People of Colour sind in den USA seit jeher allgegenwärtig und nachhaltig. Zum Beispiel, wenn es um die Krankenversorgung geht; das hatte die Corona-Krise den Betroffenen in den Wochen und Monaten vor der Tötung von George Floyd noch einmal ganz klar vor Augen geführt. Darüber hinaus ist das Polizeiwesen der USA für seinen strukturellen Rassismus schwarzen Menschen gegenüber bekannt. Die historische Komponente spielt auch eine große Rolle: Nach der Abschaffung der Sklaverei in den USA sind schwarze Menschen immer weiter kriminalisiert worden – und bis heute ist der prozentuale Anteil von People of Colour in amerikanischen Gefängnissen besonders hoch. Und last but not least: Der anti-schwarze Kurs der US-Regierung nimmt immer unerträglichere Ausmaße an. Nicht-weiße US-Amerikaner sind nun nicht mehr bereit, den Hass und die strukturellen Ungleichheiten weiter hinzunehmen und wehren sich daher derzeit vehement gegen die systemische Unterdrückung und die Gleichgültigkeit der weißen Mehrheitsgesellschaft.
SO: Ich denke auch, dass das aktuelle politische Klima in den USA zu großen Teilen mitverantwortlich ist. Leider ist zu erwarten, dass selbst, wenn Trump in diesem Jahr die Wahl verlieren sollte, das System der White Supremacy, für das er so unverhohlen eintritt, trotzdem erhalten bleibt. Damit meine ich das System, in dem politische und ökonomische Strukturen so konstruiert sind, dass sie den Zugriff weißer Menschen auf Macht, Repräsentation, Ressourcen, Privilegien und letztendlich auch körperliche Unversehrtheit sicherstellen. Dieses System schließt auch die Menschen mit ein, die sich explizit selbst als nicht rassistisch ansehen beziehungsweise sich auf der „guten Seite“ wähnen, vielleicht sogar schwarzen Menschen oder anderen Diskriminierten zur Seite stehen wollen. Wen es aber definitiv ausschließt, das sind schwarze Menschen und andere People of Colour.
Sie sprechen vom „System der White Supremacy“ und auch wird im Zusammenhang mit den amerikanischen Protesten häufig von „systemischem Rassismus“ geredet, was versteht man genau darunter?
SO: Der Begriff zirkuliert, auch in akademischen Kreisen, ist aber eigentlich ein Oxymoron. Denn alle weißen Mehrheitsgesellschaften sind von rassistischen Strukturen geprägt oder haben an anderer Stelle – im Zuge von Kolonisierung – solche Strukturen hinterlassen. Rassismus ist also selbst ein Machtsystem, das aufgrund bestimmter Zuschreibungen Macht, Privilegien, Ressourcen und Lebenschancen zuteilt. Wir können zwischen strukturellem, institutionellem und Alltagsrassismus unterscheiden, wobei struktureller und systemischer Rassismus oft synonym verwendet werden. Bei institutionellem Rassismus geht es um in Gesetzen oder staatlichen Institutionen verankerte diskriminierende Haltungen oder Praktiken, die zur Benachteiligung nicht-weißer Menschen führen und mitunter auch dafür sorgen, dass deren Diskriminierungserfahrungen gar keine Sichtbarkeit bekommen. Bei Alltagsrassismus handelt es sich um im Alltag gemachte Diskriminierungserfahrungen – von den Affenlauten auf dem Fußballplatz über die komischen Blicke im Bus bis hin zur Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt.
CVW: Dabei wäre es falsch zu denken, dass diese drei Felder unabhängig voneinander existieren, vielmehr sind sie stark miteinander verzahnt. Rassismus ist schlicht und ergreifend eine tägliche Realität für People of Colour: auf der Straße, in Nachbarschaften und Wohngegenden, in gesellschaftlichen Institutionen wie Kirchen, Sportvereinen und ebenfalls in politischen und Bildungsinstitutionen.
Welche Parallelen kann man von den USA zu Deutschland ziehen, gibt es alle drei Arten des Rassismus auch hier? Oder ist alltäglicher Rassismus in Deutschland vielleicht subtiler?
CVW: Alle drei Formen von Rassismus gibt es auch hier, nur in anderer Qualität. Auch wenn sehr viele weiße Deutsche das nicht wahrhaben möchten. Struktureller und Alltagsrassismus werden sehr oft von weißen Deutschen einfach weggewischt, weil diese Erfahrungen ihre Lebensbereiche nur selten berühren. Die Haltung ist dann oft „Wenn ich als Weißer keine Rassismus-Erfahrungen gemacht habe, dann kann es Rassismus nicht geben“. Diese Deutungshoheit über Lebensrealitäten von schwarzen Menschen ist eine Form von „White-Washing“. In Deutschland besteht, zum großen Teil, ein grundsätzliches Verständnis vom Deutschsein als weiß, europäisch und christlich. Viele aus der weißen Mehrheitsgesellschaft tendieren daher dazu, schwarze Menschen und Menschen of Colour sofort als „nicht-deutsch“ und „anders“ wahrzunehmen.
SO: Dabei hatte auch Deutschland Kolonien in Afrika und anderen Teilen der Welt. Rassenkundler in Deutschland und in den USA standen im 19. Jahrhundert in engem Austausch. Was die USA aber trotz ihrer tief rassistischen Geschichte und der damit verbundenen strukturellen Gewalt gegen Schwarze und indigene Gruppen sogar positiv von Deutschland unterscheidet, ist, dass Deutschland bis Anfang der 2000er-Jahre schlichtweg leugnete, überhaupt eine Einwanderungsgesellschaft zu sein und bis heute Begriffe wie „Leitkultur“ und „Volksdeutsche“ verwendet. Mit einem Bild von Deutschland als pluraler Gesellschaft tun sich noch immer viele schwer. Integration wird als Einbahnstraße begriffen. Auch wenn der Rassismus in den USA gewalttätiger und offener erscheint als bei uns, so gibt es doch dort Fortschritte, die bei uns noch immer weit weg erschienen. Das betrifft zum Beispiel bestimmte Gesetze – wie etwa gegen „Hate-Crimes“ – sowie die bessere Repräsentation von schwarzen Menschen in bestimmten Berufen und im politischen Prozess.
Sie sind beide in der Arbeitsgemeinschaft „Rassismus“ innerhalb des Bayreuther Exzellenzclusters engagiert. Erzählen Sie uns davon.
SO: Es ist keine Arbeitsgemeinschaft im engeren Sinne. Eine AG zu dem Thema dürfte es meiner Meinung nach gar nicht geben, denn schließlich sollte doch jeder selbst daran arbeiten, dass rassistische Strukturen transformiert werden. Gleichzeitig hat aber wie gesagt Rassismus systemische Dimensionen und die Gemeinde, die Arbeitsstelle, die Schule, die Universität etc. – sie alle sind Teil dieses Systems. Insofern ist es auch nicht selbstverständlich, dass solche Strukturen einfach von innen heraus transformiert werden. Ob sich überhaupt etwas bewegen kann, hat aber etwas mit Erkennen, Eingestehen und dem Willen zur Veränderung und letztendlich auch mit der Abgabe von Privilegien – und mitunter auch Macht – zu tun. Auch ist die Frage danach, wer in dieser Transformation die eigentliche Arbeit leistet, eine wichtige: Sind es ausschließlich Betroffene, die Weißen wieder und wieder das Problem mit Rassismus erklären sollen, obwohl sich jeder darüber auch sehr leicht selbst informieren kann? Bin ich als jemand, der Teil des „White Happyland“ ist, überhaupt bereit zu lernen? Setze ich mich auch selbst einmal mit dem Thema Rassismus auseinander, anstatt auf Erklärungen von Betroffenen zu warten?
Welche konkreten Ziele versuchen Sie zu erreichen?
CVW: Die Hauptarbeit dieser Gruppe besteht darin, das Thema für das Exzellenzcluster sichtbar zu machen, denn, wie eben gesagt, Rassismus geht jedem etwas an, und jeder soll sich damit befassen. Das jetzige politische Moment bietet Gelegenheit, dieses Problem in den gesellschaftlichen Fokus zu rücken. Die Gruppe fand sich letzten November zusammen, um Rassismus im Uni-Alltag und auch im größeren Rahmen der deutschen Gesellschaftspolitik anzusprechen und um Diskussionen anzustoßen. So wurden unter anderem Beispiele von Rassismus in der deutschen Wissenschaftslandschaft sowie im Bayreuther Stadtumfeld angesprochen. Die gemischten Reaktionen zu diesem ersten Vorstoß gaben Anlass dazu, dass die Gruppe sich in den darauffolgenden Monaten öfter zusammengesetzt hat, um über die Echtzeit-Beispiele von Rassismus zu diskutieren, und Strategien und Maßnahmen zu ergreifen und zu entwickeln. Nun hat das Thema in Zeiten von COVID 19 und #BlackLivesMatter noch einmal einen besonders aktuellen Bezug bekommen. Als Clustermitglieder, die Afrikastudien betreiben, können wir da nicht inaktiv bleiben.
Wie kann Rassismus Ihrer Meinung nach generell entgegengewirkt werden?
SO: Ein guter Anfang ist immer das eigene Umfeld – der Kindergarten, die Schule, die Universität, die Stadt. In der Stadt Bayreuth liegt beispielsweise so einiges im Argen. Es obliegt dem Stadtrat und anderen städtischen Playern, zusammen mit der Universität nötige Veränderungen anzustoßen und sich zu fragen: Kann es sich eine Stadt mit einer Universität, die sich als eines der Zentren der Afrikaforschung in Europa begreift und in der über die Dekaden tausende schwarze Menschen lebten und arbeiteten, leisten, Vereine, Getränke und Geschäfte mit rassistischen Begriffen zu belegen? Ich zitiere einmal den Bundespräsidenten, der kürzlich gesagt hat: „Es reicht nicht aus, kein Rassist zu sein, sondern wir sollten alle Anti-Rassisten sein. Rassismus wird gelernt, aber er kann auch entlernt werden. Dazu muss man aber bereit sein, eine andere Sicht der Dinge zu lernen.“ Dieser Kampf muss auf institutioneller Ebene fortgeführt werden. Überlegungen, Artikel 3 des Grundgesetzes abzuändern und den Begriff „Rasse“ durch „Rassistische Diskriminierung“ zu ersetzen oder das neue Anti-Diskriminierungsgesetz gehen in die richtige Richtung. Auch die Universität Bayreuth hat hier bereits einige wichtige Schritte unternommen – zum Beispiel die Einführung der Diversitätsagenda und der psychologischen Betreuung von Rassismus betroffenen Mitarbeiter*innen - sollte sich aber noch systematischer mit dem Problem beschäftigen, das ja oft auch eines im Spannungsfeld zwischen Stadtgesellschaft und Universität ist.
CVW: Die Tatsache ist, dass es keine „One Size Fits All“-Lösung gibt, und eine Strategie kann und wird nicht so einfach gefunden werden. Es sollte jedem zu denken geben, dass struktureller Rassismus in Deutschland nichts Neues ist – auch wenn die Regierung und die Gesellschaft momentan von dieser Realität überrumpelt zu sein scheinen. Weiße Menschen sollten sich in erster Linie mit sich selbst und ihren eigenen Vorurteilen auseinandersetzen - das könnte ein guter Anfang sein. Ich schlage vor, dass weiße Menschen People of Colour in ihrem Umfeld erst einmal zuhören und unsere Sorgen und Erfahrungen nicht einfach wegwischen, nur weil diese Erfahrungen nicht Teil ihrer eigenen Lebensrealitäten sind. Falls sie es leid sind, dass People of Colour über ihre Rassismus-Erfahrungen berichten und strukturelle Veränderungen anstreben, gebe ich zu bedenken, dass Betroffene es ebenfalls mehr als satthaben, tagtäglich rassistische Gewalt entweder als Mikro- oder als Makroaggression zu erleben.